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10801 Kilometer - Momentaufnahmen China

Momentaufnahmen China

Große und kleine Ereignisse am Wegesrand

Tag 506.

Die Herzen pumpen schneller, die Straße kann nicht mehr als Straße bezeichnet werden, die Aufregung steigt von Minute zu Minute. Wir befinden uns in einer 20 Kilometer langen Baustellen-Sandwüste und kämpfen uns durch Staub, Gegenwind und LKWs der chinesischen Grenze entgegen. 

...Wir fühlen uns wie Verbrecher mit unserer illegalen Benzin-Füllung für den Kocher und unseren Fahrrädern, die in den hoch-technisierten heiligen chinesischen Grenzhallen lauter Matsch-Brocken zurück lassen. Einzeln löchern uns die Grenzbeamten und wir flunkern ihnen eine unrealistische Reiseroute vor.

Und plötzlich sind wir drin! 

 

Tag 507.

Tine: Ich sitze auf dem Bahnhofsvorplatz der Millionenstadt Kunming zwischen unseren verdreckten Rädern, warte bis Tommi vom morgendlichen Waschgang auf der öffentlichen Toilette zurückkommt und versuche Tagebuch zu schreiben. Das Problem: Um mich herum die Definition von Moderne, mich „unauffällig“ filmende Menschen, der geldsammelnde Mann, der viel zu fasziniert von meiner Handschrift ist und mir statt nach Geld zu fragen minutenlang über die Schulter zuschaut, hektisch laufende Menschen, die im Vorbeigehen ganz langsam werden, überall Signaltöne und Ansagen auf Chinesisch.

 

Tag 507.

Häuserschluchten soweit das Auge reicht. Einen Tag lang kämpfen wir uns durch die erste chinesische Großstadt. So viele Menschen, so viele Roller mit seltsamen Verkehrsangewohnheiten, 10-spurige Straßen, so viel Beton.

 

Tag 507.

Bei jedem Schlagloch heben wir ab. Unter uns brummt der schlecht laufende Motor des alten Busses, der nicht die ganze Reise schaffen wird.

Wir liegen im Bett unseres Nachtbusses, der uns in die Berge bringen soll. Wir teilen die letzte Reihe des Busses in der oberen Etage mit drei weiteren fremden Männern. Eine große Matratze für fünf Menschen, die nur wenig Spielraum für Bewegung lässt. Die gesamte schlechte Luft des überfüllten Busses sammelt sich bei uns. An Sitzen ist nicht zu denken, zu niedrig. An Liegen nur, weil Tommi seine für chinesische Bettmaße zu langen Beine in den Flur strecken kann. Wir kuscheln mit den zu oft benutzten Bus-Bettdecken und unserem Gepäck. Durch das offene Fenster bestaunen wir den ersten Sonnenuntergang in China.

 

Tag 509.

Der Kopf fühlt sich wie ein großer Luftballon an, wir sind blass & schlapp, die Gedanken sind konfus und lassen sich nicht bündeln, draußen ist es kalt. Wir befinden uns in der altehrwürdigen Stadt Shangri-La auf 3200 Höhenmeter und für unsere Körper war der Aufstieg einfach zu schnell. 

Um nicht von der Höhenkrankheit erfasst zu werden, trampen wir zügig zurück ins Tal. Ein lieber Chinese in unserem Alter nimmt uns in seinem schicken großen Volvo mit, wir fliegen praktisch durch die Berge. Bei der Ankunft machen wir ein gemeinsames Foto. Seine feine Flasche Rotwein, die er aus dem Kofferraum zaubert, schaffen wir nicht abzuwimmeln. 

 

Tag 510.

Eine Frau möchte sich auf Chinesisch mit uns unterhalten. Wir geben ihr zu verstehen, dass wir sie nicht verstehen können. Sie fragt weiter. Mit einem Übersetzer schreiben wir ihr auf Chinesisch auf, dass wir ihre Sprache leider nicht verstehen. Sie holt einen Zettel und versucht mit den von uns so oft bewunderten Symbolen ihren Worten Ausdruck zu verleihen. Wiederum geben wir ihr unser Unverständnis zu verstehen. Daraufhin versucht sie es erneut – diesmal mit langsam gezeichneten, schönen und richtig großen chinesischen Schriftzeichen...

 

Tag 511.

Altstadt vom tibetischen Shangri-La. Um uns herum eine große Menschentraube von chinesischen Touristen. Wir sitzen gemütlich auf dem Boden an eine Mauer gelehnt. Tine singend und mit der Ukulele, Tommi auf dem Ukulele-Koffer trommelnd. Neben uns unsere Fahrräder, vor uns eine Auswahl an Postkarten mit Bildern unserer Reise. Von der ersten Minute an macht es uns so viel Freude, die Menschen sind wahnsinnig interessiert & begeistert.

 

Tag 512.

Tine: Ich hocke auf einer typischen chinesischen Toilette. Hüfthohe Seitenwände schenken mir einen Hauch von Privatsphäre, aber das ist auch alles. Neben mir eine Chinesin mit Kopfhörern in den Ohren, die in aller Ruhe mit ihrem Smartphone Nachrichten versendet. Aus einer Ecke Würgegeräusche. Unter mir - im öffentlichen und alle Hockstellen miteinander verbindenden Toilettengraben - ein sich über Wochen angehäufter Anblick, den ich hier nicht näher beschreiben kann und will. 

 

Tag 512.

Ein Kleintransporter fährt an uns vorbei. Im ersten Moment denken wir, wir sehen nicht richtig. Zweiter Blick in die Richtung des Transporters. Sehen wir wirklich richtig? JA! Auf der Ladefläche stolziert hinter Gittern ein groß gewachsener Tiger.

 

Tag 513.

Das Klima hier in den Bergen ist winterlich. Unsere geplante Rad-Route wird uns noch höher in die Berge führen. Wir haben nur einen Schlafsack und dieser hat in den letzten anderthalb Jahren Reise einen Großteil seiner Daunen verloren. 

Um die Nächte zu überstehen, brauchen wir eine wärmende Schicht! 

Wir passen uns den Lebensweisen der Menschen hier an und erstehen stolz unser neues Teammitglied und Schafsfell Molly. 

 

Tag 514.

Wir radeln los und aus der Stadt heraus. Die Landschaft ändert sich sehr schnell sobald die letzten städtischen Häuser verschwunden sind: Weite grüne Ebene, ein Bach schlängelt sich zwischen Wiesen hindurch, Yak-Herden, grasende Pferde, vor den Hütten grunzende Schweine und unsere ruhige Straße zwischendrin.

 

Tag 514.

Wir pausieren unter einem Tankstellendach, um uns herum schüttet es nun seit zwei Stunden aus Eimern, die Temperatur sank innerhalb von Minuten, wir haben alle Kleiderschichten an, die wir nach dem langen Sommer aus den Tiefen unserer Gepäcktaschen gekramt haben. Beide denken wir (ohne es auszusprechen): Wie sollen wir die kommenden Wochen durchstehen?

Der Tankstellenwart erklärt uns, dass unsere Straße wegen großer Regenmengen unpassierbar sei. 

...Nach dem Regen fahren wir wortlos weiter, unserer geplanten Route folgend.

 

Tag 516.

Über und neben uns wedeln die bunten Gebetsfahnen im Wind. Wir befinden uns an unserer zweiten Passüberquerung und auf 4386 Metern. So hoch waren wir Beide noch nie in unseren Leben gewesen! Vor uns erblicken wir eine wunderschöne steile und schroffe Bergwelt.

 

Tag 516.

Seit zwei Stunden suchen wir einen Schlafplatz. Doch neben unserer Sandstraße geht es auf der einen Seite steil bergab, auf der anderen steil bergauf. Wir radeln den dritten Bergpass des Tages hinauf, Tine den 10-Liter-Wassersack auf ihrem Fahrrad transportierend.

Die Wälder sehen genau so aus, wie wir uns ein Bären-Revier vorstellen, auch wenn die Einheimischen dies verneinten...

Einige Kilometer unterhalb des Passes sah man die Nacht über hinter einer Leitplanke das Rauchen eines Lagerfeuers. 

 

Tag 517.

Mit Creme-Resten versorgen wir unsere von der Sonne geschundenen Lippen. Wir befinden uns direkt am Fluss, dem wir den ganzen Tag folgen durften. Er hat über die Jahrtausende einen tiefen Canyon in die Landschaft gefräst und bietet uns hier einen wunderschönen Zeltplatz an. Das Feuer wärmt uns nach dieser erbärmlich kalten Waschaktion im Gebirgsfluss. Gleich gibt es Wurstsuppe!

 

Tag 519.

Übernacht sind wir in einem alten tibetischen Dorf in ein traditionelles Steinhaus eingeladen. Wo die Toilette sei, beantwortet die Gast-Oma mit einem Wink nach draußen. Als Tine von der Toilettensuche noch einmal zurückkehrt und fragt, wo sie genau suchen solle, zeigt der Translator: „Use nature department“.

 

Tag 520.

Wir befinden uns auf 4247 Meter und um uns herum schwirren riesige Moskitos. Wie ist das möglich?

  

Tag 521.

Tommi sitzt mit einer Nomadenfamilie zwischen Felsen. Gemeinsam sehen sie unser Buch mit Bildern unserer Reise an. Einer der Jungen ist ganz fasziniert vom nepalesischen Elefanten. Stolz nimmt er das Bild mit nach Hause zu deren Jurte, um die herum deren Yaks grasen.

 

Tag 521.

Die Lunge brennt, die Oldie-Playlist von Papa Bert läuft auf Hochtouren, für Mitsingen bestraft uns unsere Lunge immer direkt. Es sind noch 140 Höhenmeter zu unserer höchsten Passüberquerung.

 

Tag 523.

Mal wieder ein Zwangshalt in irgendeiner dahergelaufenen Kleinstadt, um ungeliebte Visa-Fristen zu verlängern – Organisation, die leider eng mit dem sonst so wunderbaren Abenteuer verknüpft ist.

Bei der langen zweitägigen Suche nach dem richtigen Office zur Verlängerung unseres Visums landen wir in einem Polizeiauto. Die Officer tragen Fliegerbrillen und kommunizieren entspannt über den Translator mit uns. Die Sitze des Jeeps sind mit weißem Oma-Rüschen-Stoff überzogen. Der Zigarettenrauch zieht nur langsam durch die schmal geöffneten Fenster ab. 

 

Tag 524.

Tommi: Wieder einmal eine auf seltsame und widerliche Weise bewundernswerte chinesische Toilette. Man tritt ein, sieht den Türrahmen ohne Türen – wie wir das eben schon kennen. Man sucht sich eine der drei Kabinen aus und bemerkt beim Eintreten und einem Blick zur Seite, dass auch die Seitenwände fehlen... Hier wurden tatsächlich nur Türrahmen angebracht. Warum?

 

Tag 525.

Einen Abend wollen wir uns ein halbwegs deutsches Abendessen gönnen. Wir erstehen eine Flasche Wein, machen uns Tomatensalat ohne Dressing, kaufen Aufstrich und ein tibetisches Hefebrot. Im Hostel machen wir es uns auf dem Sofa gemütlich. Uns gegenüber sitzen eine chinesische junge Frau und ihre Mutter. Sie beäugen unsere Mahlzeit verwirrt und suchen den Reis erfolglos. 

 

Tag 529.

Wir sitzen in einem Reisebus mit mal wieder waghalsigem Busfahrer, der uns durch die bergigen Weiten des chinesischen Westens befördert. Tine schaukelt ein fremdes chinesisches Baby auf dem Arm. Die Mutter schlummert entspannt mit Mundschutz & tibetischer traditioneller Kleidung in der Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges.

 

Tag 530.

Vor uns Mönche, hinter uns Mönche. Alle schnaufen wir in der Abendsonne einen kleinen Pfad den Berg hinauf. Einige von ihnen haben uns beim Vorbeigehen eingeladen gemeinsam ihre tägliche Gebetsrunde mitzulaufen. Begeistert drehen wir mit ihnen die am Wegesrand zahlreich platzierten Gebetsmühlen so schnell es geht. 

 

Tag 532.

Zurück auf dem Fahrrad weit ab von Städten und Dörfern. 

Alle paar Minuten überholt uns ein Motorrad, jedes reif fürs Museum. Darauf sitzt meist ein in dicken Lederumhang gehüllter Mann mit langem schwarzen Haar, Cowboy-Hut und wettergegerbtem Gesicht. Alle hupen, winken freudig, halten an, schauen verdutzt oder strahlen, während sie mit lauter Musik an uns vorbei rattern.

 

Tag 533.

Wir radeln auf etwa 4300 Metern. Überall am Straßenrand gucken Wühlmäuse aus ihren Löchern, in der Ferne kämpfen Murmeltiere, über uns schweben Raubvögel mit weiten Schwingen. Tine düst voraus den Pass hinunter, Tommi folgt ihr dicht. Ein Vogelschwarm hebt ab und fliegt einige Sekunden mit ihr den Berg hinab.

 

Tag 533.

Plötzlich erreichen wir ein Dorf, das nicht mal in unserer Karte eingezeichnet ist. Der Anblick erschlägt uns. Eine gigantische Ansammlung von Tempeln mit golden glänzenden Dächern, Kunstwerke aus Gebetsfahnen wurden an den Berghängen angebracht, Beherbergungen für die Mönche, alte bunt verzierte Häuschen mit Gebetsmühlen,... Ein kunterbuntes Chaos.

 

Tag 534.

Guten Morgen am Flussufer! Wir trocknen gerade unsere Sachen in der Morgensonne, als die schwarze Gestalt kommt, die uns am vorherigen Abend beim Zeltaufbau lange vom Berg auf der anderen Flussseite beobachtet hatte. Der Junge muss einige hundert Meter weiter in einer Jurte wohnen. Ein ruhiger Geselle, der uns sehr lange bei unseren morgendlichen Arbeiten zusieht. Als alles fertig ist, laden wir ihn zum Frühstücken ein. Wir sitzen wortlos im Kreis auf drei Steinen und er löffelt mit Sicherheit zum ersten Mal in seinem Leben Haferflocken mit angerührtem Milchpulver. 

 

Tag 534.

Wir kauern in zerrissenen Regen-Ponchos im Hagelregen und sitzen das Gewitter in der Hochebene aus. Die Gipfel um uns färben sich langsam weiß. 

 

Tag 535.

Die Vorräte werden knapp. Zwischen dem Dorf, wo wir Vorräte gekauft haben und dem nächsten liegen über 100 Kilometer. Zum Frühstück gibt es Kekse & Wasser.

 

Tag 535.

Der Gegenwind der Hochebene peitscht uns entgegen. Die Regenwolken ziehen auf uns zu. Als es beginnt zu regnen, verziehen wir uns schnell in einen Pick-Up am Straßenrand, der nicht mehr fahrtüchtig zu sein scheint und dort schon seit Wochen (oder auch Monaten) auf seine Abholung warten muss. Ein Grab aus Zigarettenstummeln, Arbeitsgeräten, Müll und noch mehr Zigarettenstummeln.

 

Tag 535.

In der Mitte ein für die Region typischer Ofen, auf dem das heiße Wasser im Kessel brodelt.

Wir sitzen im Restaurant und wie immer ist es mehr wie ein Zooaufenthalt. Nur, dass wir nicht die Besucher, sondern die Zootiere sind. Alle anderen Gäste sitzen mit Blickrichtung zu unserem Tisch und schauen uns unverhohlen beim Essen zu. Wir stellen uns einigermaßen geschickt an mit den Stäbchen und der Suppe. 

Ein Polizei-Beamter bezahlt nach der Passkontrolle unsere Rechnung.

 

Tag 536.

Auf der Hauptstraße im Dorf werden wir von einer älteren Frau mit lustigen Zöpfen zum Tee nach Hause eingeladen. Statt Tee essen wir schließlich regionale Tsampa-Butter-Buttertee-Pampe (Erklärung dazu im kommenden Blog-Eintrag). Plötzlich schaut die Frau wie gebannt auf Tommi und streichelt über seinen Arm. So viele Haare! Sie zeigt uns verwirrt ihren Arm - nichts. Als Tommi ihr seine Beinbehaarung zeigt, lässt sie einen lauten Jauchzer los. 

 

Tag 537.

Tommi: Das laute Zischen des Kochers bringt langsam das Wasser für unser Milchpulver zum Kochen. Etwas Warmes am Morgen ist nach jeder eisigen Nacht ein Grund zur Freude. Mit Schlaf in den Augen klopfe ich die angefrorenen Reste des Spülwassers vom Vorabend aus unseren Tassen. 

Ich schaue mich um, um Tine zum Frühstück zu rufen. Perfekt, sie ist gerade mit dem Haare waschen im Bergbach fertig. 

 

Tag 537.

Unser Benzin-Kocher klingt schrecklich hier in der Höhe. Die Verbrennung funktioniert nur sehr schlecht, wir brauchen sehr viel Benzin. Und dabei ist es uns in diesem Land verboten Benzin an der Tankstelle zu kaufen. Seit sich bei Mönchsprotesten viele Mönche mit Benzin übergossen und angezündet haben, ist es streng verboten Benzin in Flaschen abzufüllen.

Doch als wir an einer Jurte mit Händen und Füßen fragen, ob sie uns unsere Flasche füllen könnten, sitzt der Junge kaum eine Minute später vor dem Familienmotorrad, kappt den Benzinschlauch und fängt an uns etwas von der für uns so kostbaren Füllung abzulassen. 

 

Tag 538.

Wir liegen in unserer Suite im Grand Hotel und verstehen die Welt nicht mehr. Dieser Raum ist so groß!

 

Tag 539.

Tommi: Ich entferne mich von unserem zukünftigen Zeltplatz, um einen möglichen Gewitter-Unterstand ausfindig zu machen. Als ich zurückkehre, baut Tine gerade mit der frisch eingetroffenen Unterstützung eines Mönchs im Sturm das Zelt auf.

 

Tag 540. 

Erschrocken bemerken wir, dass wir die Dichtung für unseren Wasserfilter am letzten Zeltplatz verloren haben müssen. Was tun? Wir brauchen das Ding! Mit einem zu großen Gummiring und Haarbüscheln von Tines Kopf machen wir ihn wieder flott. 

 

Tag 542. 

Mit Kleidern, die sich sehr auf eine Waschmaschine freuen, hoffnungsvoll unsere Kaffee-Vorräte aufzufüllen, glücklich über die vielen schönen An-und Ausblicke, Begegnungen und Zeltplätze der vergangenen Wochen, und vorfreudig auf ein Bett & eine warme Dusche radeln wir in die erste große Stadt seit Wochen hier in den Bergen ein, um eine Unterkunft zu suchen.