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646 Kilometer - Bis nach Bayern.

Das Glück ist mit uns.

1. Etappe, 1. richtiger Reisebericht

Musiktipp für diesen Bericht auf Deine Ohren: Sufjan Stephens mit "Should have known better"

Die Rheinebene und Ihre Tücken

"Es geht nicht voran" - so kann man die ersten drei Etappen doch sehr gut zusammenfassen. Nach dem ersten Reisetag, über den ein eigener Bericht folgen wird, waren auch die nächsten beiden Tage nicht gerade von Kilometer-Massen gekrönt. Aber wer braucht das schon!? Schließlich haben die vorangegangenen Wochen doch ganz schön Spuren in Form von Schlafmangel hinterlassen, was wir in den ersten Tagen mit viel Schlaf und wenig Radeln kompensierten. Und so lebte es sich direkt sehr gut als Landstreicher! 

Am zweiten Tag wurden wir direkt mit herrlichstem Süddeutschland-Wetter beglückt, tingelten durch kleine schnuckelige und verwinkelte Dörfer am Rande des Schwarzwaldes und feierten das Leben. Ziel war es vom Start in St. Märgen, wo wir bei Tommi´s Familie aufgebrochen waren, nun Kurs auf Karlsruhe zu halten. Dort wollten wir auch noch Tine´s Familie verabschieden. Nach dem zweiten Radl-Tag nächtigten wir in der Nähe des Europaparks in Rust. Problematisch daran war der vorhergesagte Kälteeinbruch am nächsten Tag und die über 100 Kilometer Strecke, die bis Karlsruhe noch vor uns lagen... Und so nahmen wir uns Großes vor und wollten mal eben die gesamte Strecke rocken. So dachten wir. Doch an diesem Tag lernten wir, was Windschatten bedeutet und dass dieser nicht zu unterschätzen und tunlichst zu nutzen ist! Um möglichst wenig zu denken und viel zu radeln, wollten wir die Dämme am Rheinufer nutzen, um stupide Kilometer zu machen. Dort wurden wir allerdings mit eisiger Kälte und heftigstem Gegenwind empfangen, der uns sogar im Bergsprint-Modus nur schwer und hart kämpfend über die 16 km/h hinaus kommen ließ, der Schlingel. Und so kämpften wir wie Don Quijote gegen Windmühlen und kamen nicht vom Fleck. Auch an Essen war in dieser Kälte nicht zu denken. Zum Glück fand Tommi einen verlassenen Bauarbeiter-Bauwagen, den wir dann für ein ausgiebiges Vesper okkupierten. Als es dann auch noch zu schneien anfing und der Abend immer näher rückte, stiegen wir schließlich voller Vorfreude auf die Heimat in den Zug, um Zuhause von vielen freudigen Gesichtern und 3-Gänge-Menü mit Grillfleisch empfangen zu werden. Zuhause ist es doch einfach wunderbar!

Die Kältefront hielt über Tage an, in der Zeitung erschien die Schlagzeile "Der Winter gibt noch einmal alles!", der Schnee schmolz noch nicht einmal in der Rheinebene (das gibt es doch eigentlich fast nie, und schon gar nicht im März...!) und so verschoben wir die Weiterfahrt nicht ganz unglücklich immer um noch einen Tag und wurden stattdessen Zuhause verwöhnt und konnten unsere Erkältungen auskurieren.

 

Über viel zu viele Hügel und die Schwäbische Alb

Nach dieser geruhsamen Zeit brachen wir - wieder von diesem Abschiedskloß begleitet - am 7. Reisetag bei Sonnenschein auf und fürchteten uns vor allen Steigungen, die da kommen sollten. Die heimischen Wälder leuchteten, über allen Pflanzen lag Raureif, die Vögel zwitscherten und sobald wir an Höhe gewannen, tanzten die Schneeflocken um uns herum. Nachdem wir für uns nun die 50-Kilometer-Regel festgesetzt hatten, ein machbares Ziel für untrainierte Beine und gemütliche Kaffee-Liebhaber, schien alles leichter von der Hand zu gehen. Und so arbeiteten wir uns bei bester Laune über die Hügel in Richtung Pforzheim, weihten unsere überragende Edelstahl-Espressokanne ein, fanden unsere Liebe zum Dosenfisch und Tine spielte das erste schief-klingende Ständchen mit der Ukulele.

Später zeigte sich Pforzheim von seiner schokoladigsten Schokoladenseite mit diversen Promenaden an den Ufern von Enz, Nagold und der Würm, bevor wir unser neues Zuhause aufsuchten. Denn an diesem Tag durften wir zum ersten Mal bei einem Gastgeber der Plattform Warm Showers unterkommen, einer familiären Plattform, auf der Radreise-Liebende eine warme Dusche und ein Dach über dem Kopf für andere Radreisende anbieten. Diese Plattform bereitete uns daraufhin auch die kommenden Tage viele unvergessliche und herzerfrischende Begegnungen. Und so verbrachten wir einen herrlich entspannten und feuchtfröhlichen Abend mit Niko, der uns mit seiner überragenden Crème Brûlée und Reiseberichten verzauberte.
Am nächsten Tag kämpften wir uns bei Kälte und Schneeflocken über die letzten Hügel des Nordschwarzwaldes, um in Böblingen für eine weitere Nacht aufgenommen zu werden - dieses Mal vom unglaublich herzigen Ehepaar Veronika & Hubert. Sie schenkten uns mal eben ein neues behütetes Zuhause und zeigten uns, wie Zufriedenheit und unaufhörliche Abenteuerlust im Rentenalter (so richtig mit Rad und Zelt!) aussieht.

Nach duftendem Kaffee, selbst gebackenem Brot und vielen ulkigen Anekdoten setzten wir unsere Reise fort, um bis zum Abend bei Tine´s Schwester am Fuße der Schwäbischen Alb einzutreffen. Ganz unerwartet zeigte sich Nürtingen auf dem Weg mit solch einer schönen Altstadt, die sich im Neckar spiegelte. Die Hügel waren auch an diesem Tag nicht nett zu uns, aber wir sind ja knallharte Kerle und meisterten auch dies.
Mit Blick auf die Burg Teck und dem drohenden Aufstieg auf die majestätische Schwäbische Alb verbrachten wir nun das Wochenende bei Tine´s Schwester Carolin und deren Familie. Wir verbrachten viel Zeit mit Nichte Amelie und Neffe Corvin, spielten alle gemeinsam Karten und genossen Raclette. So begleiteten uns die Vier am 11. Tag unserer Reise sogar noch ein wunderbares Stückchen weiter. Tommi und ich radelten mit voll gepackten Taschen die Schwäbische Alb hoch und es klappte einfach entspannt. Jeder kleine unerwartete Hügel war und ist für uns um Welten schlimmer. Stolz kamen wir auf der Hochebene der Schwäbischen Alb an, wo wir mit Lagerfeuer, Mittagessen vom Grill und strahlenden Gesichtern von den Vieren empfangen wurden. Die Begleitung von ihnen ging sogar noch weiter - Amelie und Corvin begleiteten uns fest im Sattel die nächsten 13 Kilometer zum Campingplatz mit ihren Rädern. Und wir hatten eine ordentliche Gaudi zusammen! Dort nächtigen die Vier in ihrem Wohnmobil. Tommi und ich verbrachten die Nacht in einem überaus idyllischen Campingfass, wo wir auch zu sechst gemeinsam den Abend verbrachten. Es war ein grandioser Tag und die Schwaben, denen wir am Wegesrand begegneten, zeigten sich von ihrer freundlichsten Seite. 

 

Entlang der Donau, unserer neuen ReiseFührerin

Am nächsten Tag sprengten wir die 50-Kilometer-Regel, als wir über die Hochebenen der Schwäbischen Alb radelten, um bis zum Abend die Donau zu erreichen, der erste kleine Meilenstein auf unserer Reise. Von der Schwäbischen Alb nach Blaubeuren hinunter folgten wir für über eine Stunde einem Treibmatsch-ähnlichen Kiesweg, der unsere Räder zum ersten Mal bis aufs Letzte forderte und uns danach wie nach einer 10-wöchigen Expedition aussehen ließ. Dies brachte uns dazu die Räder und Ritzel direkt ordentlich zu säubern, da alles quietschte und die Gänge ihren Geist aufgaben... Am Abend an der Donau anzukommen war ein abartiges Highlight. Wir begossen dies erstmal mit unserem Flachmann und freuten uns an diesem breiten Strom, der nun unser neuer Reiseführer für die nächsten Wochen und Monate werden sollte. Wir durften bei den Eltern unserer Freundin Soni nächtigen, wo uns wiederum ein wahnsinnig wohliges Zuhause und bereits feines gekochtes Abendessen erwartete. 
Auf dem Weg in die Stadt Ulm zeigte sich das Münster mit dem größten Kirchturm der Welt schon von Weitem in seiner abartigen Größe. So verbrachten wir den Tag in dieser wunderbaren Stadt und erklommen trotz schmerzender Oberschenkel und wegen der Höhe schlotternden Knien den Turm. Solch unerschrockene Abenteurer sind wir! Die Aussicht war bahnbrechend und die Donau schlängelte sich vor unseren Augen durch die Landschaft. Beim weiteren Stadtrundgang ließen wir unsere Räder mit unserem gesamten Hab und Gut zum ersten Mal einfach stehen und hofften darauf, dass alles da sein würde, wenn wir zurückkommen. Wir parkten dafür einfach in der ersten Reihe direkt vor dem Münster und stiefelten davon. ...Und es blieb alles an seiner Stelle.

Die kommenden Tage bestanden aus vielen Kilometern, die wir entlang der Donau radelten (bis zu 76 Kilometer am Tag), einer Nacht auf dem Bauernhof und dem Übertritt der Landesgrenze in den Freistaat Bayern. Es fühlte sich nun richtig nach los und unterwegs sein an. Neben einigen schönen Altstädtchen bot sich uns viel öde und verlassene Landschaft dar. Als Highlight eines Innenstadt-Panoramas stellte sich Neuburg an der Donau heraus. Wir radelten von dort aus noch bis nach Ingolstadt, wo wir uns mit Marcel, einem weiteren unerschrockenen Menschen, der uns unbekannterweise für die Nacht bei sich aufnahm, zum abendlichen Bier am Flussufer trafen. Dass daraus noch solch ein amüsanter, freundschaftlicher und kulinarisch besonderer Abend werden sollte, konnte ja niemand ahnen. So wurden wir mit feinster japanischer Küche bekocht, ich wurde im Ukulele-Spielen unterrichtet, Tommi mit neuen Münztricks bestückt und so saßen wir und sangen und tranken bis in die Nacht.
Der Radl-Spaß blieb am nächsten Tag aus. Aber komplett. Wir kämpften unaufhaltsam gegen den Gegenwind, meckerten was das Zeug hielt und wollten daraufhin den Karfreitag-Mittag bei warmem Essen in einer windgeschützten Stube verbringen, wo das erste Highlight des Tages folgten sollte:

 

Tine betritt die von außen unbeleuchtete und wenig einladend wirkende Wirtsstube. Vier Gesichter schauen ihr verwirrt und mampfend vom Stammtisch im Eck aus entgegen. Es herrscht Stille. Sie fragt, ob es denn etwas zu Essen für uns gäbe. Die Antwort: "Ja." Unschlüssig und unwillkommen treten wir daraufhin gemeinsam ein. Es herrscht gespannte und gedrückte Stille ohne ein "Hallo" und wir setzen uns. Nach langem Warten steht die untersetzte & unmotiviert scheinende Wirtin doch noch vom Stammtisch auf und kommt ohne Speisekarte an unseren Tisch:

"Woas kriegt´s denn?"

Tine erwidert: "Was gibt es denn?"

-Pause-

Die Wirtin: "Fischteller."

Wir daraufhin: "Ja, dann nehmen wir den."

-Pause-

Die Wirtin: "Na, gut."

-Pause-

Sie geht in die Küche. Dreht sich nochmal um: "Zwei Moa?"

Wir: "Ja."

Und so stapft sie wortlos davon und wir warten beklommen,

und bekommen dann wortlos je einen Teller mit dreierlei fritierten Tiefkühl-Fisch-Produkten serviert.

...Es wurde im Laufe dieser skurrilen Situation jedoch noch außerordentlich nett, als wir bei anschließendem liebevoll hergerichtetem Instant-Kaffee mit dem Stammtisch ins Gespräch kommen, wo uns vier ungläubig dreinschauende Augenpaare entgegenblicken,

als wir von unserem Vorhaben berichten. Es wurde sogar so nett, dass der eine Herr im Dorf für uns Spenden sammeln gehen wollte. Wir lehnen dankend ab.

 

Noch jetzt lachen wir herzlich über diese Situation. Danach scheuchten wir unsere Stahlgäule in der Nachmittagssonne bis zum Kloster Weltenburg, wo wir mit dem Schiff den Donaudurchbruch durchquerten. Und der Anblick der im warmen Abendlicht strahlenden Felsen hat sich sehr gelohnt! Am Abend überließ uns eine Familie trotz Abwesenheit ihr Zuhause und wir sollten es einfach zu unserem machen, als wäre das das Normalste der Welt. Mit Terrasse direkt am Donauufer, einem kläffenden alten Hund, der vergeblich versuchte sein Territorium zu verteidigen, und einer heißen Dusche, ließen wir es uns gut gehen und kochten am 16. Reisetag zum ersten Mal selbst ein warmes Abendessen, das wir seit Reisebeginn mit uns herumfuhren. So lange wurden wir täglich bekocht, beherbergt und mit so viel Freundlichkeit versorgt. Man glaubt es kaum!

Und so radelten wir am Karsamstag bis nach Regensburg, wo wir nun für einige Tage bei Tommi´s Tante Renate hausen dürfen. Hier erlebten wir ein wunderbar familiäres Osterfest mit einem Osterbrunch zu 14. und genießen nun Geselligkeit, Familie, verrückte Katzen, Sonnenschein, Kachelofen und die Möglichkeit unsere Räder auf Vordermann zu bringen (bzw. bringen zu lassen - Danke an den hilfsbereiten Fahrrad-Rainer). 

 

Unsere Stimmung ist folglich super und wir freuen uns einfach endlich angekommen zu sein in dieser Reise, auf die wir über so viele Monate zugearbeitet haben. Der erste Teil der Reise hat sich ganz anders gestaltet als erwartet. Wir wurden mit so vielen Begegnungen und Gastfreundschaft beschenkt und sind ganz überwältigt von der Freundlichkeit und dem Weltvertrauen, das uns entgegengebracht wurde. So hatten wir in den ersten fast drei Wochen wenig Zeit, die wir in geruhsamer Zweisamkeit verbracht haben, weil wir ziemlich eng getaktet von Unterkunft zu Unterkunft unterwegs waren. Doch die gemeinsame Zeit und die Gespräche mit all unseren Wegbegleitern war einfach nur ein riesiges Geschenk.
Nun steht das Zelt-Abenteuer, das eigentlich Inhalt unserer Reise werden sollte, vor der Türe!